Physik Die Uniprofessoren Jörg Wrachtrup und Tilmann Pfau erhalten je 2,5 Millionen Euro aus EU-Töpfen. Von Martin Schäfer
Auch im Internetzeitalter ist manchmal der Flurfunk schneller als jede E-Mail. Diese dient dann nur noch dazu, Bekanntes oder Vermutetes abzugleichen oder zu bestätigen. So muss es sich auch am 21. Oktober 2010 zwischen Jörg Wrachtrup, 6. Stock des Physikgebäudes auf dem Vaihinger Campus der Universität Stuttgart, und Tilmann Pfau, 4. Stock ebenda, zugetragen haben. Pfau an Wrachtrup: “Sie auch?” Wrachtrup postwendend zurück: “Ich auch!” Beide Professoren für Experimentalphysik hatten die Nachricht erhalten, dass sie einen ordentlichen Batzen Geld aus den Fördertöpfen der Europäischen Union zugesprochen zu bekommen: jeweils rund 2,5 Millionen Euro. Das ist für die Forscher wie für die Uni erfreulich und als glückliches Zusammentreffen – Physiker sprechen hier von Koinzidenz – bemerkenswert. Der Europäische Forschungsrat (ERC) vergibt in der aktuellen Förderrunde nur etwas mehr als 200 dieser sogenannten Advanced Grants, also Stipendien für etablierte Forschergruppen.
Dass es mit Wrachtrup und Pfau gleich zwei Forscher derselben Universität trifft, mit Büros nur zwei Treppenaufgänge entfernt, spricht für die Unabhängigkeit des ERC. Länderproporz oder sonstige Verteilungserwägungen spielen keine Rolle. Was allein zählt, sind Erfahrung, Kompetenz und Ideen, kurz: Exzellenz. “Und deutsche Wissenschaftler schneiden hier sehr gut ab”, sagt Philip Thelen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Bonn.
Wenngleich beide Physiker grundsätzlich verschiedene Gebiete erforschen – Wrachtrup untersucht Diamanten, Pfau studiert Gase mit Riesenatomen -, gibt es zahlreiche Gemeinsamkeiten: Beide untersuchen die grundlegenden Eigenschaften der Materie, ihre sogenannte Quantennatur. Ließe die sich besser verstehen, könnte man sie etwa für einen Quantencomputer nutzen. In jedem der abgedunkelten Labore der Forscher flirren rote, grüne oder blaue Laserstrahlen auf Zickzackwegen zwischen Spiegeln, Prismen und Linsen.
“Wir wollen die Quantennatur von Licht und Materie untersuchen”, kommentiert der Quantentheoretiker Hans Peter Büchler. Er kennt die Arbeiten von Wrachtrup und Pfau genau und sitzt zwischen den beiden, im 5. Stock. Ziel sei es, einzelne Quantensysteme zu kontrollieren und miteinander zu koppeln. Aus den Einzelsystemen ließen sich dann wie mit einem Baukasten Baugruppen “zusammenstecken” – denkbar sind ein Quantencomputer oder Strahlquellen für einzelne Lichtteilchen.
Das Team um Jörg Wrachtrup schießt Stickstoffatome in zwei Millimeter messende Diamantscheibchen. Die Forscher interessieren sich nun für Stellen im Diamantkristall, an denen ein Stickstoffatom anstelle eines Kohlenstoffatoms eingebaut worden und direkt daneben ein Platz im Kristallgitter leer geblieben ist. Diese Fehlstellen – Stickstoffatom plus Gitterloch – wollen die Forscher nun gezielt kontrollieren: Ein daran gebundenes Elektron kann mit seinem magnetischen Moment, dem Spin, wie eine Kompassnadel nach oben oder unten zeigen. Mit Laserpulsen und Magnetfeldern können die Physiker diesen Spin ausrichten. Die Forscher wollen mit den Mitteln des ERC-Stipendiums diese Spins im Diamanten nun schachbrettartig aneinanderreihen und miteinander koppeln. “Der Kontrollaufwand wächst allerdings erheblich mit der Zahl der Spins”, erklärt Wrachtrup. Ein wichtiges Zwischenziel ist daher das Arrangement eines Feldes von zwei mal fünf Spins.
“Die magische Zahl wären allerdings 20 bis 30 Spins. Dann läuft manche Rechenoperation schneller als auf einem Supercomputer”, sagt der 48-jährige Physiker. Der Quantencomputer hat für ihn auch noch einen anderen Charme: Während heutige Supercomputer die Energie eines ganzen Stadtteils verbrauchen, liegt der Energieaufwand für den Kern des Quantenrechners bei nahezu null. “Wir reden hier über Möglichkeiten. Ich bin kein Techniker und interessiere mich viel mehr für die intellektuelle Herausforderung”, sagt Wrachtrup.
Sein zweites Forschungsziel: mit den Einzelspins im Diamanten ließen sich empfindliche Magnetfeldsensoren bauen. Die Anwendungsmöglichkeiten reichen von der medizinischen Diagnostik bis zur biomedizinischen Grundlagenforschung.
Für Tilmann Pfau ist die ERC-Förderung die bisher “wichtigste Auszeichnung in der Karriere”. Die Auszeichnung honoriere die Arbeit der vergangenen fünf Jahre. “Die bekommt man nur, wenn man etwas vorzuweisen hat.” Und das hat der 45-Jährige. In seinem Team hat er den Nachweis erbracht, dass es neben den drei bekannten Arten chemischer Verbindungen einen vierten Bindungstyp gibt.
Aus der Schule kennt man die kovalente Atombindung, die elektrostatische Ionenbindung und die Van-der-Waals-Bindung. Wissenschaftler wie Pfau fügten eine vierte hinzu – eine schwache Bindung zwischen zwei Atomen, von denen eines ein sogenanntes Rydberg-Atom ist. Stellt man sich ein Atom wie ein kleines Planetensystem vor, dann kreisen die Elektronen – die Planeten – bei normalen Atomen auf Bahnen, die so nahe wie möglich am Kern – der Sonne – liegen. Bei Rydbergs tun sie das nicht. Vielmehr ist das Elektron sehr stark angeregt und kreist – um im Bild zu bleiben – weit draußen auf Neptundistanz. Der Durchmesser eines Rydberg-Atoms ist rund tausendmal so groß wie der des gleichen Atoms im Grundzustand. Überraschenderweise üben solche Riesenatome des Elements Rubidium eine schwache Anziehung auf normale Rubidiumatome aus. Diese dauert zwar nur eine Milliardstel Sekunde. Für Physiker und Chemiker ist das aber eine kleine Ewigkeit. Kurios war für die Forscher zunächst, dass Rydbergs nicht nur benachbarte Atome anziehen. Unter bestimmten Umständen lassen sie die nächsten 10 000 Atome links liegen, erst beim 10 001. springt der Funke über – die zwei Atome bilden ein Riesenmolekül.
Pfau möchte nun diesen Paartanz mit Rydberg-Atom kontrollieren. Zum einen können seiner Ansicht nach auch seine Riesenmoleküle einmal als Quantenbits eines Computers fungieren. Zum anderen will er mit dem ERC-Stipendium ein Bauelement entwickeln, das kontrolliert einzelne Lichtteilchen – Photonen – abgibt. Dazu will er in eine klitzekleine Glasküvette einige Tausend Rubidiumatome einsperren. Ein Laserstrahl regt die Atome in den Rydberg-Zustand an. “Wir wissen zwar nicht, welches Atom angeregt ist, aber es ist genau eines”, sagt Pfau. Der Laserstrahl geht aus, nun strahlt das einzige angeregte Atom sein einziges Photon wieder ab. “Damit können wir einzelne Photonen durch optische Fasern leiten – wir sind hier am Limit der Physik”, erklärt Pfau.
Die Fördersumme geht bei beiden Forschern zur einen Hälfte in Material und Experimente. “Wir können damit ein ganz neues Labor aufbauen”, sagt Pfau. Mit der anderen Hälfte werden je fünf bis sechs Stellen für den Nachwuchs finanziert.